Ein Mediziner mit Leib und Seele. Einer, der für seine Patientinnen und Patienten keine Mühen scheut, der bereitwillig mehr als 60 Wochenstunden in seiner Praxis verbringt. So einer ist Dr. Ulrich Euchner, Hausarzt in Albstadt. In der Stadt auf der malerischen Schwäbischen Alb scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. Jedenfalls auf den ersten Blick. Doch eine Sorge teilt Albstadt mit vielen anderen Kommunen zwischen Ostsee und Schwarzwald: Die Sorge vor einem Praxissterben.

Ein Stich ins Herz“

Sie treibt auch den 65-jährige Euchner um. Dem Südwestrundfunk (SWR) berichtete er im Januar, seine Praxis stehe in absehbarer Zeit vor dem Aus, wenn sich nicht wider Erwarten doch noch ein Nachfolger finden sollte. „Das ist ein Stich ins Herz“, sagte Euchner. „Ich habe hier Patienten, die ich seit 35 Jahren behandle. Da kenne ich den Opa, die Oma, das Enkelkind – die ganze Familie. Das ist die Versorgung an der Basis. Und die bricht jetzt weg.“

Das Problem: Deutschlandweit sind immer weniger Mediziner bereit, die finanziellen Risiken, die hohe Arbeitsbelastung und die mangelhaften Rahmenbedingungen in Kauf zu nehmen, die heutzutage mit einer Niederlassung als Haus- oder Facharzt verbunden sind. Seit langem schon warnen Fachleute, dass die ambulante medizinische Versorgung in weiten Teilen Deutschlands sich in den nächsten Jahren deutlich verschlechtern, mancherorts gar zusammenbrechen könnte.

Seit Jahren wird gewarnt

Warnungen vor einer solchen Situation gibt es seit Jahren. 2021 etwa war eine Studie im Auftrag der Robert Bosch Stiftung zu dem Schluss gekommen, dass bis zum Jahr 2035 rund 40 Prozent aller Landkreise ambulant unterversorgt oder von Unterversorgung bedroht sein werden. Inzwischen ist das Praxissterben im Gange. Haus- und Facharztpraxen, die jahrzehntelang Patientinnen und Patienten betreut haben, verschwinden ersatzlos.

Mit anderen Worten: Tausende der heute noch rund 99 700 Praxen in Deutschland könnten in den kommenden Jahren schließen. Weil sich keine Nachfolger finden, wenn deren Inhaber in den Ruhestand treten. Oder wenn Niedergelassene aus Frust aufgeben und in Festanstellungen wechseln.

Praxis in Not“ und „Praxenkollaps“: Protestaktionen der Ärzteschaft

„Immer mehr Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie Praxismitarbeitende resignieren und flüchten aus dem System“, stellte die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) fest. Deutschland drohe ein „Praxenkollaps“. Ganz ähnlich klingen die Warnungen des Virchowbunds, der unter dem Motto „Praxis in Not“ auch in diesem Jahr wieder zu Demonstrationen aufgerufen hat. Viele Patienten unterstützen die Aktionen ihrer Haus- und Fachärzte. Sie sind zutiefst besorgt, dass Praxen in ihrer vertrauten Umgebung aufgeben müssen. Da ist sehr viel Druck auf dem Kessel.

Die Hauptgründe: Die Arbeitsbedingungen und die Verdienstmöglichkeiten in den Praxen sind in den vergangenen Jahren immer unattraktiver geworden. Das ambulante System wird infolge des Kostendrucks, der von den Kassen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ausgeht, seit Jahren nahezu kaputtgespart. Seit mehr als 30 Jahren zwingen Politik und Kassen die Arztpraxen zu Sparmaßnahmen. Zudem fehlt es massiv an medizinischem Fachpersonal. Und obendrein ist der Bürokratieaufwand für die Praxen immer größer geworden. Rund 60 Tage im Jahr ist laut KBV jede Arzt- und Psychotherapeutenpraxis mit der Erfüllung kassenbürokratischer Auflagen beschäftigt. Zeit, die entweder von der Betreuung der Patientinnen und Patienten oder von der eigenen Freizeit abgezogen werden muss.

Hilferuf in Richtung Ampel-Regierung

„Die wohnortnahe, flächendeckende und qualitativ hochwertige ambulante Versorgung rund um die Uhr war ein Wert, der unser Land ausgezeichnet hat und den die Bürgerinnen und Bürger schätzten. Jetzt aber stehen die Praxen vor dem Kollaps, sie arbeiten bis zum Anschlag und ihre Kräfte gehen zur Neige.“ So steht es in einer Petition an den Bundestag, die von der KBV im vergangenen Sommer initiiert wurde. Innerhalb kurzer Zeit kamen rund 550.000 Unterschriften zusammen. Weit mehr als für die erfolgreiche Einbringung beim Petitionsausschuss erforderlich gewesen wären.

Das sei ein klares Zeichen in Richtung der Bundesregierung, erklärte der KBV-Vorstandsvorsitzende Andreas Gassen. „Die Bürgerinnen und Bürger machen sich große Sorgen um den Erhalt der wohnortnahen und qualitativ hochwertigen ambulanten Versorgung. Sie rufen die Politik zum Handeln auf.“

Praxen brauchen eine tragfähige Finanzierung

Konkret sind die Forderungen der Praxisbeschäftigten in sieben Punkten der KBV-Petition zusammengefasst. An erster Stelle steht die nach einer tragfähigen Finanzierung: Kostensteigerungen und Inflation sollen bei der Gestaltung der finanziellen Rahmenbedingungen „unmittelbar berücksichtigt werden“.

Grundübel Budgetierung: Drei Würste bekommen, zwei bezahlen

Dazu gehört die Forderung nach „Abschaffung der Budgets“. Das ist ein Dauerbrenner auf dem Jahr für Jahr erneuerten „Wunschzettel“ niedergelassener Ärztinnen und Ärzte. Verständlicherweise. Denn hinter dem scheinbar harmlosen verwaltungstechnischen Begriff der „Budgetierung“ verbirgt sich ein Grundübel, eine wichtige Ursache für die Misere der Praxen: Die Leistungen, die sie Tag für Tag für gesetzlich versicherte Patientinnen und Patienten erbringen – und das sind 90 Prozent der Krankenversicherten -, werden nur bis zur Höhe eines vorgegebenen Budgets vergütet. Darüber hinaus müssen die betroffenen Mediziner sozusagen „für Nasse“ arbeiten, wenn sie nicht ihre kassenärztliche Zulassung verlieren wollen.

Vereinfacht gesagt ist das so, als würde jemand beim Kiosk an der Ecke drei Currywürste bestellen, aber nur Geld für zwei auf den Tisch legen und sich mit den Worten verabschieden „Sieh‘ zu, wie Du damit klarkommst.“

Gift im Gesundheitswesen“

Der gesetzgeberische Grundstein für ein solches Gebaren bei der Vergütung ärztlicher Leistungen wurde vor mehr als 30 Jahren gelegt. In viertägigen Beratungen hinter verschlossenen Türen eines Hotels in Lahnstein schnürten im Oktober 1992 der Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU), der oberste Sozialpolitiker der SPD, Rudolf Dreßler, und der FDP-Gesundheitspolitiker Dieter Thomae das sogenannte Kostendämpfungs- und Strukturreform-Paket. Ein Kernstück war die Budgetierung. Ärztevertreter sprachen von Lahnstein als dem „Mediziner-Waterloo“. Für die gesetzlichen Krankenkassen war das neue Modell freilich komfortabel und willkommen.

Jahre später nannte der HNO-Arzt und Vorsitzende des Virchowbundes, Dirk Heinrich, die Budgetierung „das Gift im Gesundheitswesen“. Der Begriff ist zutreffend. Die Begrenzung der Budgets der Vertragsärzte hat für etliche Fehlentwicklungen im Gesundheitswesen gesorgt. Das war zwar schon bald erkennbar, doch zeigt es sich erst seit einigen Jahren in voller Schärfe.

Kapazitäten sind ausgereizt

Beschränkte Budgets erschweren und beschränken die Arbeit der Praxen. Während die Bevölkerung altert – und damit die Nachfrage nach ambulanter Behandlung -, reichen die Kapazitäten der Praxen immer weniger aus, um allen Patienten adäquat helfen zu können. Lange Wartezeiten, fehlende Termine und Aufnahmestopps in Haus- und Facharztpraxen gehören zu den Folgen. Da helfen auch keine Forderungen aus der Politik, mehr Termine anzubieten.

„Ärzte könnten mehr Termine nur dann anbieten, wenn sie in der Lage sind, ihre Praxen darauf auszurichten“, mahnte Heinrich unter anderem Anfang 2019 in einer Publikation des Virchowbundes. „Unter einem Budget ergibt es wirtschaftlich aber keinen Sinn, weitere Patienten aufzunehmen und Termine zu vergeben. Ganz im Gegenteil: Weitere Patienten lösen in der Praxis Kosten aus, die der Arzt aus eigener Tasche finanzieren muss. Das empfindet die Ärzteschaft zurecht als unzumutbar.“

Viele Praxen überleben dank privat versicherter Selbstzahler

Zur Ironie dieser Situation gehört, dass viele Praxen ohne die von Sozialdemokraten, Grünen und Linken gern verteufelte Private Krankenversicherung (PKV) noch viel größere Schwierigkeiten hätten. Denn Selbstzahler, die meist privat versichert sind, vergüten medizinische Leistungen nach der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ), bei der es – anders als im Bereich der gesetzlichen Kassen – keine Deckelung gibt.

Welche verheerenden langfristigen Folgen der „Kompromiss von Lahnstein“ nach sich zog, haben mittlerweile wohl auch die Gesundheitspolitiker der Ampel-Parteien erkannt. Im Koalitionsvertrag haben sie sich mehr oder weniger deutlich dazu bekannt, dass die Deckelung der Vergütung ambulanter medizinischer Leitungen aufgehoben werden sollte.

Erst große Ankündigungen, dann Schneckentempo

SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat es dabei allerdings nicht eilig. Er bleibt bei seiner sattsam bekannten Taktik großer Ankündigungen, auf die dann eine Umsetzung bestenfalls im Schneckentempo folgt.

Immerhin wurde die vielfach geforderte Entbudgetierung für Kinder- und Jugendärzte vorgenommen – wenngleich erst, nachdem gravierende Engpässe in diesem Bereich zu massiven Protesten geführt hatten. Für die Hausärzte wurden ähnliche Schritte versprochen, wobei noch unklar ist, wie das dann konkret aussehen wird. Kosten würde das die GKV wohl nur die überschaubare Summe von rund 100 Millionen Euro im Jahr. Hingegen müssten für die Aufhebung der Vergütungsdeckel für alle Arztgruppen – also auch für die niedergelassenen Fachärzte – Expertenschätzungen zufolge rund drei Milliarden Euro im Jahr bereitgestellt werden. Kein Wunder, dass die ohnehin schwer defizitären gesetzlichen Krankenversicherungen, die Jahr für Jahr mit Milliardensummen vom Steuerzahler alimentiert werden müssen, Zeter und Mordio schreien.

Fachärzte bleiben weiter unberücksichtigt

Derweil bleibt unklar, ob die berechtigten Forderungen der Zehntausenden von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte an die Politik, noch während der Restlaufzeit der Ampelkoalition wenigstens im Ansatz erfüllt werden. Bei einer Anhörung des Petitionsausschusses des Bundestages Mitte Februar sah es eher nicht danach aus.

Was eine Entbudgetierung der Fachärzte kosten würde, interessiere ihn nicht, beschied Lauterbach die anwesenden Ärztevertreter und Bundestagsabgeordneten: „Da wir die Fachärzte nicht entbudgetieren wollen, haben wir das auch nicht berechnet.“ Statt Punkt für Punkt auf den Forderungskatalog der KBV einzugehen, verwies der Minister auf Gesetzesvorhaben, mit denen er eine Art Gesamtlösung der im Gesundheitswesen angehäuften Probleme anstrebe, darunter zum Bürokratieabbau, zur Digitalisierung und zur Schaffung zusätzlicher Medizinstudienplätze. Auf konkretere Zeitabläufe für seine neuen gesetzgeberischen Allheilmittel wollte er sich freilich nicht festlegen. Und schon gar nicht darauf, wie die Finanzierung ermöglicht werden soll.

Schuld sollen immer die anderen sein

Lauterbachs Auftritt vor dem Bundestagsausschuss muss den Interessenvertretern der Vertragsärzte wie eine Verhöhnung vorgekommen sein. Einmal mehr übte sich der Minister im Abstreiten, Abwiegeln und Abwimmeln. Die Probleme seien natürlich bekannt. Schuld seien – typisch Lauterbach – aber andere, sprich die Union: Bei vielen Themen sei „16 Jahre nichts gemacht worden“. Dass seine sozialdemokratische Partei schon lange davor nicht allein am unsäglichen „Kompromiss von Lahnstein“ maßgeblich beteiligt war, sondern auch in etlichen Jahren direkter Regierungsverantwortung beziehungsweise Mitverantwortung in verschiedenen Koalitionen maßgeblich an falschen oder mangelhaften gesundheitspolitischen Weichenstellungen mitgewirkt oder diese gar selbst veranlasst hat, schien dem Professor irgendwie entfallen zu sein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Quelle: Bundesverband Verrechnungsstellen Gesundheit e.V., Bildquelle: Pexels

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